Ödipus, eine Psychoanalyse
von Frank Sacco
Vorwort Müller: Frank Sacco, Doktor der Medizin, hat eine eigene Ansicht über den Ödipus-Komplex (Bild: Frank Sacco beim Untersuchen desselben – oder etwa nicht?). Laut Sacco geht es nicht um einen Vater-Sohn-Konflikt, sondern um einen Gläubiger-Gott-Konflikt. Mit seiner modernen Analyse rückt er die Ödipussage in eine neue Perspektive und erlaubt eine neue Deutung.
Ödipus, eine Psychoanalyse
Dem Ödipuskomplex liegt in den allermeisten Fällen nicht, wie Freud irrtümlich annahm, ein Vater-Sohn-Konflikt, sondern ein Gläubiger-Gott-Konflikt zugrunde. Damit handelt es sich um ein klassisches Sacco-Syndrom mit einer Angst vor jenseitigen Strafen. Ödipus fürchtete nach eigener Aussage die Strafe der Götter wegen seiner Tötung des Vaters und seines Inzestes mit seiner Mutter Iokaste. Er fürchtete nicht, wie Freud annahm, seinen Vater oder gar die Kastration durch seinen Vater. Denn der war ja längst gestorben. Wenn wir in die Originalarbeit des Sophokles schauen („König Ödipus“), wird uns der Gott-Gläubiger Konflikt deutlich: Der Chor singt: „Welcher Gott verstörte Dich?“ Darauf Ödipus: „Nun bin ich gottverhasst, einer Befleckten Sohn“… „Bin ich doch ganz verhasst den Göttern.“ Also noch einmal: Hier geht es nicht um Kastrations-, sondern um Höllenangst. Freud ist an dieser immens wichtigen Stelle widerlegt.
Die Ödipusgeschichte muss man also ganz anders deuten als Freud. Dabei hilft das Wissen, dass der Begründer der Psychoanalyse seine eigenen religiösen Konflikte in großer Not auf die harmlosere sexuelle Ebene verschob. Er flehte C.G. Jung an, aus seiner Sexualtheorie ein „Dogma“ zu machen gegen eine „schwarze Schlammflut“, womit er das religiös Okkulte meinte. Dogmen errichtet man in der Regel aus Angst. So kommt das Wort Hölle bei Freud kaum vor. Die Hölle war seine Angst. Er war bireligiös erzogen. Seine Eltern waren jüdisch, aber seine katholische Kinderfrau nahm ihn in jede Kirche mit. Dort mag er gelernt haben, dass der Bibelgott Juden nicht mag. Sie seien „die Söhne des Teufels“, so Jesus in Johannes 8,44. Das wird ihm jede Art von Religion gründlich vermiest haben. Mit seinem Satz „Religion ist Wahn“ brachte Freud immerhin seine vier „Kindheitsgötter“ um: Jahwe, den fiesen Christen-Gott und dessen Sohn Jesus – und den Heiligen Geist. So fiel Freud immer dann ihn hysterische Ohnmachten, wenn die Sprache auf einen Mord an Göttern kam. „Ein Stückchen Neurose“, an der man arbeiten müsse, so der erwachende Freud. Die „Sünde des Mordes am eigenen Kindheits-Gott“ war Freuds Trauma. Diese „Sünde“ ist als klassische Übertragung auch das Trauma der heutigen Psychiatrie, deren Mitglieder sich meist und „sündhaft“ als Atheisten oder sog. Agnostiker einordnen. Die Ursache der Taubstummheit meiner Kollegen in Sachen Religion ist somit jetzt aufgeklärt.
Nahezu immer wenn es bei Freud um „Kastrationsangst “ geht, geht es also eigentlich um Gott- bzw. Höllenangst. Die hat kein geringerer als Karl Jaspers als die größte Menschenangst identifiziert. Freud selbst und wohl auch noch kein Psychiater kamen bisher darauf, dass und warum der „Atheist Freud“ Gottangst haben könnte. Bei diesem Brückenschlag muss ihnen erst ein Internist helfen.
Der stärkste menschliche Trieb ist nicht etwa der Sexual-, der Todes- oder der Aggressionstrieb. Auch hier lag Freud falsch. Kein Wesen außer dem Menschen begreift, dass es jahrelange Qual zu Lebzeiten erleiden kann, bzw. sogar eine – wie es die Kirchen bis heute in grausamer Art lehren – ewige Folterstrafe mittels Feuer (so Bischof Nikolaus Schneider, EKD Hannover). Vorwiegend seine Angst ist es, die den Homo sapiens derartig grausam macht. Die Folter ist seine eigentliche und furchtbare Wahrheit. Die täglich im TV auf Wunsch der Zuschauer (Einschaltquote) gezeigten Folterzustände sind analytisch gesehen einfache Traumatherapie. Denn dort passiert Folter in nicht persönlich bedrohlicher Atmosphäre.
Hier kommt nun die moderne Deutung der Ödipussage: Den Vater tötete Ödipus ohne ihn als Vater zu erkennen. Es ging um eine Auseinandersetzung nach einem Verkehrsunfall. Ödipus fasste es als Notwehr auf, hatte der Vater ihn doch mit einem „doppelten Stachelstab“ auf den Kopf geschlagen. Alles also halb so schlimm. Ödipus sagt seinem Schwager, er habe Vatertötung und Inzest „nicht willentlich“ verschuldet. Wie dürfe man tadeln „ungewollt Getanes“. Doch „Götter“ denken und richten anders.
Viel tiefgreifender war der spätere unwissentliche Inzest mit Iokaste. Wie sich danach herausstellte, war die Mutter seiner Kinder seine eigene Mutter. Sophokles versucht in „König Ödipus“ diesen noch zu beruhigen: „Macht Euch keine Sorgen wegen der Heirat mit der Mutter“! Aber Inzest ist im Grunde – wie auch Vatermord – kein sexualwissenschaftliches Problem, sondern ein religiöses Tabu, und eines der größten überhaupt! Das machte Sorgen, das machte Schuldgefühle, das trieb Ödipus in seinen religiösen Masochismus: Er brannte sich beide Augen aus, um nicht in die unangenehme göttliche Folterkammer zu müssen. Buße ist ein Deal mit dem betreffenden Gott.
Derartige Mechanismen gibt es heute unverändert. Man bietet seinem Gott eine Eigenstrafe als Ersatz zur ewigen Höllenstrafe an in der Hoffnung, dass er sich mit diesem Opfer schon zufrieden geben wird. Heute lässt man das mit dem Brennen, heute geht man z. B. in eine sog. „endogene“ Depression, die nicht endogen, sondern religiös ist, und weiß nicht warum. Psychotherapeuten sprechen von einer Verschiebung der Symptomatik. Je größer die vermeintliche Sünde ist, umso grausamer fällt die kirchenbedingte masochistische Depression aus.
Die Rache-Göttinnen sind es ja letztlich selbst, die Ödipus in ihrem Hain aufnehmen und pflegen. Sie sind nach der Sage durch das büßende Opfer des Ödipus „versöhnt“. Ödipus ruft es aus: „Erhabene…, zeigt euch versöhnlich mit mir“. „Die Götter sind versöhnt“, schreibt Heinz Politzer in „Ödipus auf Kolonos“. Natürlich ist es anders. Es funktioniert völlig ohne Göttinnen: Ein Erkrankter wird „gesund“, wenn sei Unbewusstes der Meinung ist, man habe genug gelitten.
Ein Tabu rächt sich also nicht, wie Freud annahm, selbst. Der Erkrankte ist es, der seinen Tabubruch rächt. Erwachsene in unserer Gesellschaft verdrängen die ewige Hölle. Dabei wird sie uns 15 Jahre lang ab der frühesten Kindheit als „Gewissheit“, als Glaubensgewissheit beigebracht. Dies ist das Ziel unserer Kirchen. Und natürlich erreichen sie dieses Ziel auch. 15 Jahre Gehirnwäsche in der Adoleszenz und in der Suggestivsituation „Gottesdienst“ bewirken selbstverständlich einen nahezu kollektiven Schaden.
Es ist uns zunächst völlig unverständlich, warum die „moderne Psychiatrie“ eine derartige Auswirkung nicht sehen will. Höllenangst „kennt“ sie in aller Regel nicht, obgleich sie ja ein Produkt des Über-Ichs ist und die überwiegende Angst psychiatrischer Klienten. Spezielle Fortbildungen darüber gibt es anscheinend nicht. Entsprechende Unterrichtseinheiten habe ich der Psychiatrie angeboten. Man will sie nicht. Um keine religiösen eigenen Ängste aufkommen zu lassen, meidet man das Thema „wie die Pest“. Unsere Psychiatrie ist krank. Man hat dort bis heute selbst die Erkrankung, die zu heilen man einmal angetreten ist. Die Ursache der hohen Suizidrate bei Psychiatern ist aber jetzt geklärt. Ausführlicheres steht in meinem Buch „Die Neurose Sigmund Freuds „, BoD, englische Übersetzung: „The Freudian Fallacy“, BoD.
Nun ein Krankenbericht: Ein sehr sittlich aufgewachsenes Kind schläft mit 4 Jahren im Bett seiner „schöne“ Amme, schreibt uns der Analytiker und Zeitgenosse Freuds Karl Abraham im Buch Psychoanalytische Studien II. Er streift ihr das Hemd hoch und legt seinen Körper an ihr Gesäß. Mit 7 Jahren wiederholt er Ähnliches öfters bei seiner Mutter. „Derartige Handlungen von inzestuösem Charakter pflegen“, so Abraham, „zu den schwersten Selbstvorwürfen… und Sühneaktionen zu führen.“ Es schließt sich „unmittelbar“ ein 40-jähriges Leiden mit Zwang zum ständigen Beten und zum „Grübeln über religiöse“ Fragen an. Seinen Beruf kann er nicht mehr ausüben. Unseren heutigen Psychiatern voraus hat Karl Abraham, wenn er auch gewisse Psychosen ursächlich auf einen Versündigungsgedanken zurückführt. Der ist durch seine dahinter stehende Maximalangst vor jenseitigen Strafen sehr oft die Ursache sowohl einer Schizophrenie als auch eines Autismus bzw. eines Asperger-Syndroms. Bei einem katholischen Patienten erlebe ich zurzeit eine „Sünde wider den Heiligen Geist“ als Ursache seiner Psychose. Er hatte als Kind während der Heiligen Messe, einem Sakrament, geflucht. Das wurde dem Kind in der Beichte nicht vergeben. Solche Verbrechen toleriert die Gesellschaft. Noch.