Gedanken zum Sacco – Syndrom
Meinen ersten wissentlichen Kontakt zu einem Patienten mit einem Sacco-Syndrom hatte ich während meiner medizinischen Ausbildungszeit in einer psychiatrischen Klinik. Es handelte sich um eine Patientin von etwa 30 Jahren mit einer schwersten sog. endogenen Depression, die auf einer geschlossenen Abteilung behandelt wurde. Dieser Kontakt ist Jahrzehnte her und ich kann mich an die Einzelheiten naturgemäß nur ungenau erinnern. Die Depression war seit Jahren auffällig, viel reden konnte die Patientin nicht. Intensive Psychotherapie fand in der Abteilung nicht statt, man beschränkte sich vorwiegend auf das Ausprobieren verschiedener Medikamente und die Beobachtung ihres Anschlagens. Die Patientin hatte einige Aufzeichnungen bei sich, die ich mir fotokopierte.
Ich erinnere noch, wie sie zu Insulinschocks geführt wurde. Zwei Assistenzärzte, die Patientin und ich gingen durch lange Krankenhausflure in den Therapieraum. Es kam während des Schocks zu einem Aufbäumen der Patientin, sodass nur Kopf und Füße auf dem Behandlungstisch auflagen und die Patientin eine bizarre Brücke mit ihrem Körper baute. Aussicht auf einen Erfolg dieser Behandlung sahen die beiden Assistenzärzte nicht.
Ich hatte einen engeren Kontakt zu den Patienten als die fertig ausgebildeten Ärzte, da ich meine Zeit vorwiegend in dem Aufenthaltsraum der Kranken verbrachte. Die Pfleger saßen hinter einer großen abtrennenden Glaswand, beobachteten das Geschehen und griffen vorwiegend bei Besonderheiten ein. Die Patientin hatte sich Aufzeichnungen über ihre Gedanken gemacht und immer wieder kam der Gedanke, dass ihr nicht vergeben werden könne, da sie gegen den Heiligen Geist gesündigt habe. Dazu angeführt hatte sie Schriftstellen, unter anderem Matthäus 12,3-1, wo die Kirche Bibeljesus sagen lässt: „Darum sage ich Euch: Alle Sünde und Lästerung wird den Menschen vergeben aber die Lästerung wider den Geist wird den Menschen nicht vergeben.“ Die Überzeugung, wider den Heiligen Geist gesündigt zu haben, war steif und fest, obwohl die Sünde an sich ihr gar nicht erinnerlich war. Dadurch war ein Bereuen nicht möglich, welches ihr nach dem Bibeljesustext aber auch nicht viel geholfen hätte. Wo Bibeljesus nicht vergibt, vergibt er eben nicht. Die o.g. Bibelstelle ist klassisch pathogen und wird als krankmachender Ausspruch Jesu auch in einem Beispiel bei Hans-Dieter Schorege erwähnt.
Was nun Bibeljesus mit sündigen Menschen vorhat, denen er nicht vergibt, wurde oben schon angesprochen: Er wird deren Koch. Ich organisierte eine „Absolution“. Der Anstaltsgeistliche wurde bemüht. Ich war bei dem Gespräch nicht dabei und weiß auch nicht, wie es verlief. Nach dem Gespräch tat sich an den Auffälligkeiten der Patientin nichts. Damals hatte ich noch Vertrauen zur Geistlichkeit. Gott möge mir verzeihen.
In ihren Aufzeichnungen schildert die Patientin panische Angst und immense Schuldgefühle. Die Mutter habe das Kind autoritär „regiert“ und das Kind nur bei Folgsamkeit geliebt, der Vater trat für das Kind kaum in Erscheinung, er wird als farblos und schwach geschildert. (Personendaten werden in diesem Buch zum Personenschutz bisweilen abgewandelt).
Das Sacco-Syndrom zeigt vielfach ein überstrenges gefühlskaltes Elternteil oder auch zwei überstrenge Eltern sowie eine Religion, die fundamentalistisch höchste Grausamkeiten beinhaltet bzw. den Gedanken an eine Hölle im Schuldfall. Es setzt oft auch eine „Schuld“ voraus, die das Kind oder Kleinkind verdrängt hat und die minimal sein kann. Möglich ist allerdings auch, dass strenge aber an sich das Kind liebende Eltern vorliegen. In einem solchen Fall kann sich eigene Höllenangst der Eltern auf das Kind übertragen haben. Diese haben meist unbewusst derartige Ängste und versuchen, sich und ihr Kind vor der Hölle zu bewahren, indem sie streng nach den Regeln und Gesetzen der Bibel oder der Nächstenliebe leben. Sie weisen das Kind bewusst oder unbewusst, verbal oder averbal darauf hin, dass es bei Fehlhandlungen vielleicht nicht in den Himmel kommt. Es glaubt, es kommt dann woanders hin. Die Eltern (oder ein Elternteil) sind dann depressiv mit mangelndem Urvertrauen und verstärkter Realitätssicht. Sie übertragen diese Dinge auf das später krank werdende Kind. Das Sacco – Syndrom kommt natürlich auch elternunabhängig bei besonders sensiblen Kindern vor.
Kranke mit dem Sacco – Syndrom können nicht „nein“ sagen: Das Nein-Sagen bedeutet für sie schon Sünde. Ein „Nein“ ist schon Auflehnung gegen eine Autorität bzw. ihr Über- oder Gott-Ich. Ein „Nein“ bedeutet in der Gefühlswelt des Kranken, Nächstenliebe nicht genügend zu geben. Wer aber nach der Bergpredigt nicht genug Liebe gibt, der ist nicht seelig und kommt in die Hölle.
Das allabendliche Gebet mit der Mutter hat sehr erhebliche Einflüsse auf das Kind. Es findet schon weit vor dem Märchenerzählen statt. Besonderer Einfluss und besondere Suggestion entstehen, wenn Gebete in den Abendstunden und kurz vor dem Einschlafen bzw. beim Einschlafen mit Kindern gesprochen werden. Märchengrausamkeit ist nie so gravierend wie Glaubensgrausamkeit.
Eine einfache Umfrage bei 10- bis 12-jährigen Kindern wurde vorgenommen mit dem Thema: „Was passiert mit mir nach dem Tod?“ Etwa 2/3 der Kinder sprachen in den Aufsätzen nur vom Himmel aber 1/3 sowohl vom Himmel als auch von der Hölle. Höllenglaube ist auch heute ein weit verbreitetes Phänomen. Ein „es war einmal…“, was viele Psychiater beschwichtigend einwenden, ist hier nicht angebracht. Wir haben religiöses Mittelalter. Psychopathogene religiöse Inhalte werden vernachlässigt, weil an Höllenangst in einer die Hölle nahezu komplett verdrängenden Gesellschaft nicht gedacht wird. Mancher Patient findet den Gedanken geradezu lächerlich, er könne selbst noch an so etwas wie Hölle glauben. Psychiater werden teilweise sehr ungehalten, unterstellt man ihnen Höllenangst. Je ungehaltener aber ein Patient wird, umso sicherer kann man sein, mit der Vermutung richtig zu liegen. Das ist nun einmal so bei der Psychoanalyse. Je mehr Widerstand kommt, umso näher ist man an der Neurose.
Wenn man auf das Sacco-Syndrom achtet, kann man ihm in der ärztlichen Sprechstunde häufig oder gar täglich begegnen. Der Arzt, speziell der in Glaubensdingen sachlicher als ein Psychiater agierende Hausarzt, muss nur gezielt religiöse Anamnesen erheben. Das geschieht heutzutage nahezu nicht mehr. Die Hölle ist für unsere Psychiatrie nahezu ganz tabu. Wer von Hölle nur spricht, gilt schon als paranoid. Eine Ausnahme gestattet sie allerdings Papst Benedikt. Der darf. Er darf fast alles. Er wird nicht für paranoid erklärt.
Es gibt auch Patienten, die anscheinend durch eine Erziehung mit Hilfe von Fegefeuer und Hölle keinen gravierenden seelischen Schaden erlitten haben. Die Grausamkeiten, die die Bibel inhaltlich bietet, wirken sie sich bei einigen Kindern gar „positiv“ aus? Was wäre das Fernsehen ohne die allabendliche Grausamkeit? Was wäre Spanien ohne den Stierkampf? Alles ist Frage des Standpunktes. Habe ich Pech, gefoltert zu werden, oder Chancen, dabei zuzusehen? Der Mensch und die Gewalt, das ist ein besonderes Kapitel.
Auf jeden Fall ist die Frage trotz aller Forschung nicht endgültig geklärt, warum der Homo sapiens mit einigem Vergnügen Gewalt anschaut, darüber hört und selbst ausübt. Man kann auch sagen: Foltern macht ihm Spaß, besonders erlaubte Folterung. Zum Beispiel im Krieg und von einem eingeredeten Gott und dem Zugführer erlaubt. Schließlich wurden deutsche Waffen durch Geistliche gesegnet. Kommt es durch derartige Gewaltanwendung zu einer Beruhigung der Seele? Sind hier ganz uralte übermittelte und vielleicht schon genetisch im Sinne von Jungs Archetypen festgelegte Phänomene im Spiel, über die wir noch nichts wissen?
Über das Fegefeuer ist mir als protestantischer Christ wenig bekannt. Es kommt in unserer Glaubenswelt nicht vor. Ich erinnere mich nur an einen Besuch der Sixtinischen Kapelle und ein dortiges Gemälde von Michelangelo: In der rechten unteren Ecke ist dargestellt, wie es im Fegefeuer zugeht. Ein Henker steht in einem Kahn und prügelt mit einer Keule am anderen Ende dieses Bootes stehende und wahrscheinlich bei der Prüfung durchgefallene Gläubige in das umgebende Wasser. Wenn in einer Kirche eine solche Darstellung vorhanden ist, muss man davon ausgehen, dass diese sich offiziell zu dieser Darstellung bekennt. Sie ist so offiziell wie die Bibel. In einem Museum ist das etwas ganz anderes. Auch ist diese Darstellung nach Meinung der Kirche jugendfrei, denn auch Jugendliche und Kinder sehen sich dieses Bild an und pilgern massenweise daran vorbei. Der deutsche Papst weiß es: In Deutschland ist Folterung streng verboten und speziell auch ihre bildliche Darstellung und ihre Verharmlosung als ein irgendwie einer diffusen Gerechtigkeit unterliegender Akt.
Was dort abgebildet ist, ist den meisten der vorbeiziehenden Gläubigen nicht bewusst. Irgendwo gibt es da den automatisierten Gedanken: Was Gott macht, das ist auch richtig. Gott habe die Freikarte dafür, eine Lizenz fürs Foltern. Hat er diese Lizenz von seinem Vater? Irgendwo ist auch die Kritikfähigkeit der Besucher eingeschränkt, wie bei einer Hypnose. Der Vorgang wird zerebral so verarbeitet, dass das Aufsuchen der Sixtinischen Kapelle insgesamt als ein „Genuss“ erlebt wird. Es ist jedoch ein Genuss nur für das Bewusstsein und damit für gerade einmal 2 % unserer Gehirntätigkeit. Der Rest ist unser Unbewusstes und wir wissen nicht, wie es unseren Rombesuch verarbeitet. Wenn jemand äußert, er glaube nicht an die Hölle, so sprechen gerade einmal 2 % seiner Gehirntätigkeit aus ihm und das ist gerade der Teil, der für unsere Psyche nahezu unwesentlich ist. Äußert gar ein Psychiater derartiges, begeht er als Fachmann einen medizinischen Anfängerfehler: Er leugnet, dass sein Unbewusstes ihm tatsächlich unbewusst ist.
Die Beschreibung des Sacco-Syndroms und vergleichbarer Krankheiten setzt voraus, der Bibel Schuld zu geben und auch dem Gott, wie ihn die Bibel schildert, und damit dem überhaupt grausamsten der bisher bekannten 8 Millionen Götter. Dieses „Gott Schuld geben“ ist in unserer Gesellschaft ein weit verbreitetes Tabu, dass sich negativ auswirkt bei der Prophylaxe des Syndroms. Dessen grundsätzlich beste Verhütung ist natürlich eine kritische Religionsreform.
Ich will hier wegen der Wichtigkeit erneut Peter Schellenbaum in seinem Buch „Gottesbilder“, dtv, zitieren: „Die einzige Moralvorschrift, die bei allen Christen soviel gilt, dass sie nicht einmal ausgesprochen wird, lautet: Du darfst an der moralischen Vollkommenheit Jesu nicht rütteln!… Dieses Tabu ist die wirksamste Waffe des christlichen Gottesbildes, sich gegen seine Wandlung zu wehren… Dass auch die Tiefenpsychologie dieses Tabu in Bezug auf Jesus noch kaum angegangen ist, ist schwer verständlich…“
Es ist also eine Gleichschaltung bzw. eine Allianz unserer „modernen“ Psychiatrie mit einer unmodernen radikalen Religion festzustellen, einer Psychiatrie, die sich im Oberflächenbewusstsein als atheistisch oder agnostisch falsch einschätzt, aber es aus religiösen Ängsten heraus streng vermeidet, ihren Gott bzw. Bibeljesus in das allgemeine Wertesystem einzuordnen. Diese Phobie der Tiefenpsychologie reicht soweit, dass die Themen Gott und Hölle, die größte Angst des Menschen also, nicht mehr für die Heilung ausreichend mit Patienten thematisiert werden können.
Ob eine Bibelreform von den Verantwortlichen gewollt wird mit einer Darstellung eines im klassischen Sinn schuldfreien Gottes? Es muss bezweifelt werden. Ob der Klerus auf die krankmachende Darstellung von Höllengemälden wird verzichten wollen? Ich habe da Zweifel: Furchteinflößen ist Macht und Macht ist Geld. Immerhin: Erzbischof Robert Zollitsch, Leiter der katholischen Bischofskonferenz, wird in der „Welt“ zitiert: Er möchte angeblich die Hölle nicht mehr thematisieren! Weiterhin wolle er eine neue Moral, eine neue Religion. Es tut sich also etwas. Meine Anzeige an die Adresse Erzbischof Beckers wegen seelischer Misshandlung von Kindern bei der Staatsanwaltschaft Paderborn hat also möglicherweise schon Gravierendes bewirkt und als Schock gewirkt. Es ist doch gut, seine Meinung eindrucksvoll zu äußern und kirchliches Fehlverhalten auf den Punkt zu bringen. Übrigens: Jedem ist es erlaubt, Strafanzeigen zu starten. Sie müssen nur berechtigt sein. Es ist auch kostenfrei.
Zu der Frage, die von der etablierten Psychiatrie kommen wird: „Wo sind sie denn, die Opfer der Kirche?“, sei folgendes gesagt: Sie sitzen täglich in ihren und unseren Wartezimmern. Geschädigt wird vor allem das gläubigere, streng erzogene Kind. An ihm sieht man den Schaden am eindeutigsten. Es wird oft psychiatrisch erkranken. Die Hölle wird diesen Kindern in der Bibel als ein Super-KZ dargestellt. Bilder und Fresken in Kirchen tun an diesem Bild unter Genehmigung der Kirchen ihr übriges.
Droht man Kindern mit einem weltlichen KZ oder warnt man sie davor wie Anne Frank, so erbringt bzw. erbrachte das naturgegeben schwere psychische, lang dauernde Angsterkrankungen. Droht man ihnen hingegen gar mit einem ewigen KZ, werden sie mit noch größerer Wahrscheinlichkeit schwer krank werden. Bedroht eine Mutter ihr Kind wiederholt mit Feuerstrafen, rufen Psychiater nach dem Jugendamt und berufen sich auf §241 StBG, „Bedrohung“, besonders, wenn das betroffene Kind eine Angsterkrankung entwickelt. Droht eine Kirche Kindern damit, lassen Psychiater es gut sein. Hier legen sie zweierlei Maß an. Psychiatrie und Staatsanwälte gewähren den Kirchen hier einen unerlaubten Vorteil.