Die Neue Religion (Die Religion nach Auschwitz)
Lassen Sie mich einige Gedanken formulieren zu einer möglichen Neuen Religion mit einem humanistischen Gottesbild, einer Religion, wie sie derzeit unter Geistlichen wohl schon diskutiert wird, so von Robert Zollitsch. Es ist eine No Hell Religion. Ich möchte eine Konstruktion entwerfen mit einem schuldfreien Gott, der Möglichkeit eines „Himmels“, und einer neuen Aufgabenpriorität für unsere Kirchen.
Die Neue Religion sollte die gute Tat in Werken und Worten in den Vordergrund stellen. Frank Bruno Wild, geb. 1959, Verfasser kultur- und religionsphilosophischer Schriften, beschreibt in „Werterziehung im Spannungsfeld exzentrischer Personalität“ als Regulativkonstanten die Nächstenliebe, die Wahrhaftigkeit und die Bescheidenheit als jene Parameter, die als Leitstrukturen in die Neue Religion eingehen. Unter Bescheidenheit wird im Text nicht das verstanden, was die klassische christliche Kirche als „Demut“ (= Knechtschaftshaltung) bezeichnet.
Luthers Gnadenphilosophie hat massenweise Schwerstkranke und Suizidtote erzeugt. Man war bzw. ist der Gnade eines oft Gnadenlosen ausgeliefert. Der moderne Geistliche regiert mit den Begriffen der Sünde, der nur eventuellen Gnade Jesu und Jesu Hölle. Denn: Nach unseren Kirchengemälden erwerbt göttliche Gnade nur die Hälfte der Menschheit, exakt 50 %. Die Anderen fallen in Ungnade: In Jesu Kochtopf oder in die Isolationshaft einer Ferne alles Guten, dem „Aus“ für die Liebe. Unser Gott sei kein „Wohlfühlgott“, donnern Pastoren von ihren Kanzeln und hoffen so auf mehr zahlende, weil verängstigte Gäste am nächsten Sonntag. Ein Gott ohne Hölle ist vielen Theologen ein Dorn im Auge. Sie fühlen sich entmachtet. Der evangelische Theologieprofessor Friedrich Wilhelm Graf im „Fokus“: „Auf den Kanzeln wird zunehmend ein Kuschelgott verkündet,… ein trostreicher Heizkissengott für jede kalte Lebenslage… So wird das Christentum zu einer Wellness-Religion gemacht.“ Und die will man nicht. Man will ein hübsches Feuer statt nur Heizkissen. Feuer bringt mehr ein. Jenseitiges Feuer ist nach Bischof Schneider das „Geschäft“ der Kirche. Auch Kinder sollen sich ja nicht nur wohl fühlen mit ihrem Gott. Schreckliche Angst sollen sie haben und dadurch demütig sein, wobei man die Angsterkrankungen billigend in Kauf nimmt. Über die Zusammenhänge habe ich meine Kirche gründlich aufgeklärt. Ein Angstzustand ist nach der WHO-definition bereits eine Erkrankung, da man mit dem Gefühl Angst nicht beschwerdefrei ist. Wer Angst hat ist bereits angstkrank.
Naturgemäß habe ich viele in meinem Leben getroffen, die eine Neue Religion ohne den importierten Rachegott vom Mittelmeer schon leben. Oft waren dies auch religiöse Menschen und mit der Kirche verbunden. Zwangsläufig ist der Begriff Kirche aber in der Regel assoziiert mit dem Gedanken bzw. dem Engramm im Unterbewussten, dass derjenige, der Gutes tut, in den Himmel kommt, die Sünder dagegen in die Hölle.
Ich möchte keinem Gläubigen wehtun, aber es werden für eine gute Tat doch mächtige Anreize durch die Kirchen gesetzt. Die gute Tat könnte egoistische Ziele haben. Damit sind wir bei ihrer so genannten diabolischen Deutung. Wer als christlich Gläubiger gut ist, kann nicht vollständig Anreize dafür bei seiner Motivation ausschließen. Die Neue Religion schafft jetzt die Anreize ab und sagt, dass es Hölle nie gegeben hat und dass wir auch keine Hoffnung auf das Paradies durch Gutsein schöpfen sollen. Die gute Tat tun wir um ihrer selbst willen, weil wir das Leid anderer vermindern wollen und nicht für Gott oder weil wir ihn lieben. Gott kann sich für unsere Liebe und Gebete nichts kaufen. Im Hintergrund der Neuen Religion bleibt ein Gott oder ein Raum für ihn. Oder ein Friede. Sie wäre sonst keine.
Die alte Religion treibt uns massiv über Schuldgefühle zur guten Tat. Ich fürchte, dass viele liebe Menschen, die ich kennen gelernt habe, ein klinisch nicht relevant gewordenes Sacco – Syndrom hatten.
Der „Jesus der Bibel“ war nur ein halber Revolutionär. Er vergibt Sünde nur halb. Nur bei Bereuung, bei Demut. Nur, wenn er angehimmelt wird. Die Kirche hat es verstanden, aus dem unschuldigen Weihnachtskind eine Bestie, nämlich den Planer einer Apokalypse und den Vorsteher ihrer ausgedachten Hölle zu machen.
Bibel – Jesus hält an der Hölle fest (s. Bergpredigt). Er sagt am Kreuz hängend zu einem Mitgekreuzigten: „Noch heute wirst du mit mir im Paradiese sein“. Er sagt es aber nicht auch zu dem anderen Gekreuzigten. Für den lässt er die Option Hölle offen. Das war nicht nett. Diese arme Kreatur sah sich am Kreuz und durch Jesu Worte auch schon mit einem Bein in der ewigen Hölle. Bibel-Jesus verzeiht nicht den „Narr – Sagern“. Er verzeiht nicht denen, die wider den „Heiligen Geist gesündigt“ haben. Er revidiert nicht den Unsinn über die Verbrechen (z. B. Sintflut) seines Vaters. Sünder will er quälen, Tag und Nacht, von Ewigkeit zu Ewigkeit im feurigen Pfuhl (Johannes -Offenbarung). Der „Jesus“, wie wir ihn aus der Bibel kennen, ist am Reißbrett einer Hochintelligenz entstanden, die ihresgleichen sucht. Er soll ein sehr guter Mensch gewesen sein. Er habe gar einen Blinden sehend gemacht. Nun, derartiges Gutsein machte ihm keinerlei Mühe. Ein vierstündiger operativer schweißtreibender Eingriff zur Rettung eines Augenlichtes in der Silvesternacht war nicht nötig. Ein Augenaufschlag Jesu genügte auch zur Speisung der Zehntausend. „Gutsein leicht gemacht“, wollen wir da ausrufen. Warum hat Bibel-Jesus nicht alle Blinden sehend gemacht? Warum hat er nicht gleich das Paradies wieder eingeführt und lässt diese Welt so? Mit ihren ganzen Folterungen, mit ihren ganzen KZ’s? Es wäre ihm ein Leichtes gewesen. Göttliche Allmacht und göttliches Gutsein schließen sich im Angesicht der Erdenqualen vollständig aus. Das meinte auch Schopenhauer. Ein Wunder vollbringender Jesus wäre ein schlechter Mensch gewesen. Er hätte einfach zu wenig da gezaubert, wo sein Zauber dringend notwenig gewesen wäre und noch heute notwendig ist. Die Kirchen meinen, die Hölle auf Erden sei der Preis der Freiheit, die Gott den Menschen gegeben habe. Im Angesicht eines KZs muss man als Schöpfer der Menschen diese Freiheit natürlich sofort zurücknehmen. Wenn man etwas schöpft, ist man auch verantwortlich für sein Experiment. Wenn man Ratten züchtet, die sich gegenseitig auffressen oder vergasen, sollte man das Züchten einstellen. Man hat dann als Rattenzüchter versagt.
Wie sieht Gottes angebliche Hilfe in der Medizin aus? Heilung sei grundsätzlich ein Zeichen für die Präsenz Gottes, so Pastor Andreas Herrmann, Wiesbaden (Quelle idea Spektrum 7/11). Letztlich bleibe es Gott aber überlassen, ob er einen Kranken (z.B. einen aidskrankes Kind, der Verf.) heile oder nicht. Wenn er nicht heile, solle man „auf jegliche Schuldzuweisungen verzichten“. Warum aber? Natürlich ist unterlassene Hilfeleistung Schuld, ja schwere Schuld.
Gott sei auch der Heiler in der Medizin, er stecke auch im Rat von Medizinern, daher empfehle er, „auch ärztlichen Rat zu befolgen“. Mir drängt sich die Frage auf, warum es überhaupt Kunstfehlerprozesse gibt, wenn doch Gott allein über gesund und nicht gesund entscheidet oder entscheiden kann. Würde Pastor Herrmann einen Mediziner verklagen, wenn dieser ein Karzinom im heilbaren Frühstadium bei ihm oder einem Angehörigen übersehen hätte? Bliebe Herrmann dann noch bei seinem Glauben? Er habe jedenfalls „schon viele Wunder mit Handauflegung und Beten erlebt“. Warum nur hat dann Beten in Auschwitz nichts genützt – als es wirklich darauf ankam? Wurde dort zuwenig gebetet? Tag und Nacht wurde dort gebetet! Wir Mediziner unterscheiden in solchen Fällen post oder propter. Ist eine Besserung nach oder durch ein Gebet eingetreten? Wir trinken in München einen Espresso. Wir bezahlen und gehen. Dann fällt uns aus dem 3. Stock ein Blumentopf auf den Kopf. Ist das nun, lieber Leser, nach oder durch das Espressotrinken geschehen? Natürlich post. Danach. Ein ursächlicher Zusammenhang besteht nicht. So ist es mit Beten auch.
Bibel – Jesus ist ein Konstrukt und hält einer kritischen Prüfung seines angeblichen Gutseins nicht stand. So, wie er dargestellt wird, ist er nicht gut. Jesus ist aber definitionsgemäß gut. Geschichtlich kann man ihn nicht mehr erfassen. Er ist per definitionem die bedingungslose Liebe. So findet er auch wieder Eingang in die Neue Religion. Der Neue Gläubige ist ein Stück ungläubig. Er glaubt nicht mehr an die Bibel, an ihre angeblichen Wunder, sondern hält sich an ethische Grundsätze und eine erweiterte Kant´sche Moral. Mitleid, Mitgefühl, Brüderlichkeit, Aufmerksamkeit und gegenseitiges Helfen sind ihm heilig. Er muss nicht an Jesu Auferstehung und an seine Jungfrauengeburt glauben. Er muss Geistlichen nichts glauben. Er muss auch nicht glauben, dass das „Vater unser“ vom wirklichen Jesus stammt. Zu augenscheinlich klingt dieses Gebet nach einer Kirche, die auf pure Macht aus ist. Die Kirchendrohung Hölle ist im „Vater unser“ im Satz „…und vergib uns unsere Schuld…“ verborgen. Der wirkliche Jesus würde heute ein anderes Gebet vorschlagen, so eines zum Beispiel:
Vater unser,
Vater im Himmel.
Heiligen wollen wir Dich nicht mehr,
auf Deinen Wunsch nicht mehr.
Geheiligt wurde schon zu viel, sagst Du.
Dein Wille ist die Liebe.
Hilf uns, sie geschehen lassen.
Dein Reich komme, es sei Hoffnung für uns,
Deine schwachen Kinder.
Hilf, dass wir’s täglich Brot
teilen wollen mit den Armen.
Du sagst, unsre Schuld ist vergeben,
vergeben auch denen, die schwere Schuld haben,
oder schwere Schuld eingeredet haben,
die die Psychiatrien gefüllt haben,
indem sie Dir die Absicht Hölle unterstellten.
Die Dir so die Würde nahmen.
Hilf uns, Liebe zu tun,
das Testament Deines Sohnes zu erfüllen.
Denn ihr seid die Liebe, Du Vater,
Du Jesus und Du, Heiliger Geist.
Amen
Ich bin etwas im Zweifel, ob der Mensch für eine hier skizzierte Neue Religion taugt. Seit der Steinzeit hat er sich emotional nicht weiterentwickelt. Das, was wir an Ethik haben, ist als Schale, wenn es darauf ankommt, dünn. Ein Versuch ist die Neuerung aber wert. Denn die alte Religion hat in zwei Weltkriegen und diversen KZs moralisch versagt. Schlimmer kann es nicht werden als unter der alten Religion, die Nächstenliebe durch Androhung von Gewalt durchzusetzen suchte. Regelnde Gesetze entsprechen einer Ethik, die besser ist, die ein Miteinander ermöglicht. Unsere Gesetze sind weitaus besser als die 10 Gebote, die Moses auf seine Tafeln schrieb. Mose schrieb das wichtigste Gesetz nicht auf: Du sollst nicht foltern. Dafür folterte er halt zu gerne. Unser Gott kann nicht schreiben. Er hat ja keine Hände. Wir sind seine Hände.
Planetarisches Ethos nennt Wolfgang Huber eine Ethik, die besser ist als die von Mose ausgedachten 10 Gebote und Grundlage sein kann für eine Religion nach Auschwitz.
– Achte die gleiche Würde aller Menschen ebenso wie die Würde der Natur
– Respektiere die Freiheit, die Gleichheit und die Teilhaberechte der Menschen
– Übe Toleranz gegenüber den Überzeugungen und Lebensformen der anderen
– Nimm das Leben und das Lebensrecht der nächsten Generation so ernst wie das eigene
– Tritt für die Rechte und die Zukunft der Schwächeren ein
– Beteilige dich am Abbau von Benachteiligungen und Diskriminierungen
– Trage persönliche, gesellschaftliche und politische Konflikte gewaltfrei aus
– Nutze die Natur in einer mit ihrer Würde zu vereinbarenden Weise und trage zur Bewahrung der natürlichen Grundlagen des Lebens bei
– Beteilige dich an gesellschaftlicher und politischer Verantwortung
– Verantworte den Gebrauch deiner Freiheit.
Auch der Intellekt des Menschen hat sich nicht vergrößert. Einstein war nicht intelligenter und phantasievoller als die Erfinder der Bibelstorys und sonstiger ausgedachter Mythen.
Unsere Angst hat sich in vielen tausend Jahren nicht vermindert. Sie wird durch die Medien nur größer, die uns alles in unsere Wohnzimmer schleppen – am liebsten brennende Menschen, die aus brennenden Towern springen. Die alte Religion vermindert gezielt diese Angst durch Suggestion eines beschützenden Gottes und die Suggestion, dass der Tod keiner ist. Die Neue Religion kann das nicht bieten. Die alte Religion hat dazu geführt, dass die gute Tat langsam verschwindet. Sie hat dazu geführt, dass Gott langsam stirbt – durch ihre Starrheit und durch ihre immensen Schuldzuweisungen da, wo keine Schuld ist. Sie hat die Psychiatrien gefüllt. Die alte Religion läuft aus.
Unser Gott hat Vorbildfunktion. Dürfen wir ihn als seinen illegalen Doppelgänger Bibelgott bis in die heutige Zeit foltern lassen? Nach 1945? Wenn man die Bibel als Standard einer Moral halten wollte, müsste sie kräftig umgeschrieben werden. Was spricht eigentlich dagegen? War Luther der letzte, der schreiben, übersetzen und interpretieren konnte? Luther tat das alles mangelhaft und als halluzinierender Höllenangst-Kranker.
Was kann mit unseren Kirchen geschehen? Wenn wir schon so viele Kirchen haben, das heißt so viel Platz für Menschen, können wir sie umfunktionieren in Orte der Organisation der guten Tat. Wie sie es früher schon einmal waren. Man könnte Muslime einladen. Zum gemeinsamen Essen. Wir könnten tatsächlich integrationswillig werden und tatsächlich gastfreundlich. Diese Organisation spielt sehr häufig heute nur noch eine Nebenrolle und sie wird weniger mit Einsicht als mit Zuckerbrot und Peitsche, mit Freude auf einen Himmel und Angst vor einer Hölle durchgesetzt. Die Neue Religion ist anspruchsvoll. Sie verlangt ein eigenverantwortliches Gutsein und auch Kampf gegen die Natur.
Hermann Hesse bzw. sein Protagonist sagt es uns in seiner Erzählung „Gertrud“: „Das Schicksal war nicht gut, das Leben war launisch und grausam, es gab in der Natur keine Güte und Vernunft. Aber es gibt Güte und Vernunft in uns, in uns Menschen, mit denen der Zufall spielt, und wir können stärker sein als die Natur und als das Schicksal, sei es auch nur für Stunden. Und wir können einander nahe sein, wenn es not tut, und einander in verstehende Augen sehen,und können einander lieben und einander zum Trost leben. Und manchmal, wenn die finstere Tiefe schweigt, können wir noch mehr. Da können wir für Augenblicke Götter sein… Wir können Gott im Herzen tragen…“
Zur Verminderung von Angst ist es vor allen Dingen wichtig, dem Menschen die Furcht vor übermenschlicher Grausamkeit, das heißt auch vor irdischer Folter zu nehmen. Das, was wir jetzt haben, dass sich kaum noch jemand um den anderen kümmert, dass in der uns verbleibenden Zeit, wo man Gutes tun könnte, ferngesehen wird, dass man Günter Jauch liebt und Harald Juhnke aber seinen Nachbarn nicht, weil man ihn nicht einmal kennt, führt zu einer Steigerung von Angst und Gewalt. Das sich Kümmern führt dagegen zu einer Verminderung von Angst, von Gewalt. Die Neue Religion ist einen Versuch wert. Dieser Versuch bedeutet, Vertrauen zu haben in die Selbstregulierung der Gesellschaft durch Staat, Polizei, Gesetze und eine hoffentlich bald aufgeklärte und wirklich moderne und nicht mehr ängstliche Psychiatrie. Papst Benedikt XVI. sollte in diesem Versuch eines Besseren belehrt werden, wenn er unqualifiziert und pro domo äußert, ohne eine „Jenseitsperspektive“ könne ein Mensch auf den anderen keine „Rücksicht mehr nehmen“ (in „Gott und die Welt“, Knaur). Er ist kopf-, aber nicht herzgebildet. Ohne Aussicht auf ein Jenseits würde der Mensch so viel zusammenraffen, „wie nur möglich“. Ich sehe den Menschen nicht als dergestalt egomanisch an. Atheisten denken doch auch an ihre Mitmenschen! Oft mehr noch als wir Gläubige! Sie kommen aber keinesfalls in den Himmel, so ein Priester heute, am 4.3.2011 in K-TV um 12.55 Uhr. Die kämen woanders hin. Wohin? Er irrt. Oder er will nur Angst machen. K-TV ist ein Sender gegen die Religionsfreiheit. Die Freiheit dieses Senders muss drastisch beschnitten werden, sonst wird sie faschistisch. Oder ist sie es schon?
Selbstverständlich gehört zu einer Reduktion der Angst auch eine aktive Sterbehilfe oder eine vergleichbare Hilfe am Lebensende. Das heißt, die letzte Möglichkeit für den Arzt, ein Leben zu beenden, das an seinem unwiederbringlichen Ende von der Natur gefoltert wird. Ich sehe immer wieder in meinem Patientenkreis eine Angst vor dieser Folterung am Ende des Lebens. Das steht in Diskrepanz zu der gängigen Meinung vieler meiner Kollegen, eine aktive Sterbehilfe sei generell unnötig. Mediziner scheuen sich oft, ihren Patienten rechtzeitig zu sagen: „Du wirst an deinem Ende nicht übermäßig leiden müssen“, weil ihnen dafür das Handwerkszeug nicht in jedem Fall gegeben ist. Es droht Gefängnisstrafe, wenn wir am Lebensende weiter alle Hilfe geben, die uns rein technisch möglich ist. Die Holländer praktizieren Sterbehilfe bereits aktiv. In meinen Augen sind sie nun plötzlich nicht ethisch minderwertiger als wir Deutschen, nur weil sie diese aktive Hilfe eingeführt haben. In Hinblick auf unsere Geschichte sollten wir mit solchen Wertschätzungen vorsichtig umgehen. Deutsche sind hoch spezialisiert im Verdrängen von Gewalt und Elend gewesen. Das sollten wir uns immer vor Augen halten. Deutsche verdrängen die Gewalt der Natur am Ende eines Lebens.
Schon Schopenhauer schreibt uns in „Menschenliebe“, offiziell würde im Christentum zwar Moral gepredigt, der Vergleich der „Moralität“ der Christen mit der einer anderen Religion Angehörenden falle eher „zuungunsten“ des Christentums aus. Er führt hier die „zahlreichen Religionskriege“ an, die „unverantwortlichen Kreuzzüge“, die „Ausrottung eines großen Teils der Ureinwohner Amerikas“, die „zu endloser Zuchthausarbeit verdammten Negersklaven“, die „unermüdliche Ketzerverfolgungen“, die „himmelschreienden Inquisitionsgerichte“ und die „Hinrichtung von achtzehn tausend Niederländer durch Alba“ an. Von Auschwitz konnte er noch nichts wissen. Die Diskrepanz erklärt sich durch die Brutalität der beiden Chefs des Christentums („Gott“ und „Jesus“), die in ihrem Tun alle bisherigen Despoten negativ übertreffen und in deren Namen man alles an Grausamkeit tun und geschehen lassen kann. Beispiele: Der Bibelgott befahl den Israeliten den Holocaust an den Kanaanitern, wobei explizit (aus lauter „Gerechtigkeit“) auch die Babys umzubringen waren. Er unterhält bereits das Dauer-KZ Hölle. Der Jesus der Bibel plant in seiner „Apokalypse“ einen weiteren Holocaust, wobei Regenwasser und Feuerregen die Tötungs- bzw. Foltermittel darstellen werden. Und er hat heute den „Schlüssel zur Hölle“. Von wem? Vom Herrn Papa. Nicht umsonst heißt es: Gott schuf den Menschen nach seinem Bilde. Wie der Herr, so´s Gescherr. Übrigens: Schopenhauer schreibt in „Gerechtigkeit und Mitleid“: Gerechtigkeit und Menschenliebe seien die beiden Kardinaltugenden. „Beide wurzeln in dem natürlichen Mitleid“, so der Denker. Wo es mangele, hätten wir den „Unmenschen“ vor uns. Analog dazu kreiere ich hier den Begriff der Ungötter und zähle die beiden mitleidlosen Christen-Götter inklusive ihres so unheiligen Geistes als Paradebeispiele dazu.
Ich bin mir im Unklaren, ob der Mensch mit seiner dünnen ethischen Haut für die Neue Religion taugt. Einstein sagt dazu: „Intellektuell leben wir im Atomzeitalter, moralisch in der Steinzeit.“ Vielleicht braucht der Mensch die Vorstellung von Hölle und Himmel und von der Strafe bzw. einer ewigen Strafe bei Verfehlungen. Das müsste durch Forschung geklärt werden. Aber wer soll eine solche Forschung durchführen, die teuer sein wird? Die Forschung in der Medizin ist meist industriegebunden und dient damit in aller Regel der Gewinnmaximierung. Abschaffung der Ursachen von Patientenängsten bedeuten weniger Gewinn bei der Industrie.
Vielleicht braucht der Mensch den Gedanken an einen ihm in der Not helfenden Gott und ich tute ihm weh, wenn ich ihm diesen Trost nehme. Aber ist die Freiheit von der Kette Höllenangst nicht mehr wert als die paranoide Idee, es gäbe einen helfenden Gott? Wer glaubt noch fest an diese Idee? Gerade heute habe ich ihn aber angebetet, diesen Helfenden. In einem Stoßgebet. Die Rettungsdiensteinsatzzentrale hatte überraschend meine Hilfe angefordert, obgleich ich keinen Dienst hatte. Ein Patient drohte zu ersticken. Jeder betet wohl manches Mal, in einer derartigen Situation. Seinen Kinderglauben kann man nicht vollständig aufgeben. Gott spielt auch gut Fußball: Nach einem Tor schlägt man als Südländer das Kreuz als Dank. Aber es ist doch unfair, wenn er mitkickt.
Die einfachere Alternative zu einer Neuen Religion ist indes die Erneuerung der bestehenden Weltreligionen, indem diese Abschied nehmen von jeder Verherrlichung von Gewalt. Es heißt Abschied nehmen von ihrem Absolutheitsanspruch und der These, der vorgebrachte Glaube sei gültig, absolut und wahr, also weit mehr als schlichter Glaube. Unser Glaube hat sich in Zukunft den Bundesgesetzen zu fügen und unterordnen.