Diese Erde / Der Mensch
Allgemeiner Teil
Diese Erde / Der Mensch
Das Leben auf dieser Erde ist gekennzeichnet durch einen Kampf Leben gegen Leben. Bei Tieren wird es uns deutlicher als bei Pflanzen. Der Mensch erfasst aufgrund seiner relativ großen Gehirnmasse diesen Prozess intellektuell und reagiert auf ihn zunächst depressiv.
Nicht die Sprache oder die Benutzung von Werkzeugen macht den Menschen letztlich aus, sondern das intellektuelle Begreifen, dass es auch übermenschliches Leid bzw. Folter gibt. Sprechen bzw. sich fließend untereinander unterhalten, das können viele Tiere.
Die Realität dieser Erde, und zwar die Realität des Fressens und Gefressenwerdens, hält im Grunde kein Mensch ohne Verdrängung aus. Ausnahmen gibt und gab es. Eine ist A. Schopenhauer.
Wenn diese Realität auch täglich künstlich komprimiert (z.B. Tagesschau) in den Medien an uns vorbeizieht, wird sie mit dem gleichen Atemzug auch verdrängt. Grausame Realität in den Medien ruft sogar oft eine psychische Beruhigung im Oberflächenbewusstsein „Gesunder“ hervor, da sofort erfasst wird, dass reale Gefahr nicht besteht: Die Realität spielt sich zeitlich oder örtlich zu weit weg vom Fernsehsessel ab. Was allerdings unser Unterbewusstes mit den allabendlichen Grausamkeiten anstellt, wir wissen es nicht. Wir ahnen es aber: Allzu Grausames wird allzu normal.
Glück kann immer nur empfunden werden durch Verdrängung von Unglück. Kein Glück ist also ohne einen gewissen Wahn vorstellbar. Wie kein anderes Wesen braucht der Mensch Schönheit und Kunst, die im Grunde nichts Absolutes sein können, sondern ein Kunstprodukt, das sich der Mensch im Laufe der Jahrtausende als Gegenpol und Abwehr von Depression geschaffen hat. So ist z. B. die Schönheit eines Sonnenuntergangs die im Grunde wahnhaft als schön empfundene tägliche Wiederholung eines für jedes Tier völlig belanglosen Ereignisses. Ohne die als schön empfundene Natur und ihre Übersteigerung in bildender Kunst und Musik wären wir Depressionen stärker ausgesetzt und weniger lebensfähig. Kunst entspringt genetisch bereits fixierter Depressionsabwehr und gehört damit zum Alams, dem Anti-Leid-Anti-Mitleid-System, siehe dort.
Das intellektuelle Begreifen eines jeden Menschen, dass es übermenschliches Leid bzw. Folter auch für ihn gibt, führt also zu einem Grundgefühl der Panik und Depression, welches aber, um lebensfähig zu bleiben, durch allerlei Kunstgriffe bekämpft wird. Die Panik des Menschen schlummert jedoch unter einer nur hauchdünnen Decke und kann bei nahezu jedem von uns durch eine kurze Äußerungen, z. B. diejenige eines Piloten in 10.000 Metern Höhe: „Wir haben keinen Treibstoff mehr“, an die Oberfläche gelangen. Im Flugzeug bricht Panik aus. Das geht oft so blitzschnell, weil diese Panik in uns vorgefertigt und daher immer präsent und abrufbereit ist. Wir brauchen sie nicht einzuüben. Das hat mit Instinkt zu tun. Instinkt dient dazu, sich fortzupflanzen, zu überleben und eventueller Qual auszuweichen. Panik kann uns unglaubliche Kräfte verleihen. Neurotisch bedingte Panik (sog. Panikstörung, Angst vor der Angst), in der Regel durch Gott- bzw. Höllenangst hervorgerufen, ist überflüssig. Sie ist sehr gut behandelbar, da sie auf dem Aberglauben Hölle beruht.
Durch Auseinandersetzung mit der bedrohlichen Umwelt gibt es keine gesunden Menschen. Der Mensch ist krank. Entweder ist er depressiv, wenn ihm die nahezu komplette Verdrängung nicht gelingt, oder wahnhaft mit all seinen Folgen, wenn er verdrängt. Dann erlebt er die Welt schöner, als sie objektiv ist. Der sog. normale Mensch ist also im Grunde wahnhaft krank. Es zeigt sich bei den Nürnberger Prozessen nach der Nazi-Zeit, dass es sich bei den Tätern eigentlich um ziemlich „Normale“ handelte, die ihr Tun verdrängt hatten. Man spricht im Gedenken an Hannah Arendt von der Normalität des Bösen oder dessen Banalität. Es zeigte sich da die Pathologie des Normalen bzw. „Gesunden“. Diese Pathologie hat ihren Ursprung im ganz gewöhnlichen Überlebenskampf in einer im Grunde sehr feindlichen Umwelt. F. Nietzsche sagt uns schon vor 1933: „Der Irrsinn ist bei Einzelnen etwas Seltenes, aber bei Gruppen, Parteien, Völkern …die Regel.“ Vor den phänomenologisch Gesunden muss man sich also schon oft sehr deutlich in Acht nehmen.
Wenn die Weltgesundheitsorganisation Gesundheit als das Fehlen von Beschwerden definiert, so zeichnet sie damit einen Menschen, der realitätsfremd die zum sozialen Leben notwendige depressive Mitschwingung nicht aufweist. Gesunde Menschen nach dieser WHO-Definition sind einfach auch nicht ungefährlich für ihre Mitmenschen. Mitleidsfähig muss man schon sein. Und Mitleid ist nun einmal schmerzhaft. Und Schmerz ist eine Beschwerde.
Wie also auch Schönheitsempfinden und Kunstgenuss künstlich vom menschlichen Geist hergestellte, positiv wirkende Sinnesempfindungen sind, ist auch Schutz durch übermenschliche Wesen und übermenschliche Dinge künstlich ersonnen, so das Schutz bringende Amulett der Steinzeitmenschen, der ersten Urreligion. Im Grunde haben auch Tiere Religion, wenn sie sich wahnhaft durch ein in Wirklichkeit schwaches Alphatier beschützt glauben. Es mag eine Biene sich wahnhaft durch die Königin-Biene beschützt glauben und sie daher ihrerseits beschützen. Das ist schon Religion. Neben dem intellektuellen Erfassen von übergroßem Leid und der dadurch entstehenden Depression und ihrer Verdrängung sowie der Erschaffung von Schönheit und Kunst ist also auch die Religion vielleicht typisch, aber nicht ausschließlich menschlich. Für sein Wohlbefinden ist der Mensch noch allermeist angewiesen auf das Gefühl eines übermenschlichen Schutzes. Gott sei so wichtig wie Sex, meint Isaak B. Singer. Das gilt auch meist für die sog. Ungläubigen, die in Extremsituationen von Bedrängnis dann doch auf diesen Schutz zurückgreifen. Im abstürzenden Jet gibt es keinen Atheisten. Esoterik ist auch eine Glaubensform, sogar eine mit relativ wenigen Nebenwirkungen. Sie ist eine sanfte Religion.
Der Schutz des menschlichen Individuums durch die Möglichkeit der Verdrängung wird dem Säugling schon systematisch antrainiert. Ein ganzes System steht dahinter: Alams (siehe dort). So haben Mütter in Luftschutzkellern bei Bombenhagel mit ihren Kindern gesungen und gespielt, damit ein Erfassen der Realität den Kindern nicht möglich war.
Andererseits kann die Möglichkeit zur Verdrängung beim Kind gestört werden, wenn die Mutter weltliche Realität aus irgendeinem Grund erfasst oder von eingeredeten Gottängsten irritiert ist und das Gefühl der daraus entstehenden Depression auf die Psyche des Kindes überspringt. Es resultieren dann u. U. frühkindliche „Schizophrenien“ und damit das, was wir als Autismus bezeichnen. Ich muss mich gleich wegen dieses Ausdruckes entschuldigen. Er sollte vielleicht in der offiziellen Psychiatrie nicht mehr gebräuchlich sein, da er negativ besetzt ist. Man könnte eine Zeitlang vom Morbus Bleuler sprechen.
Der rosa Elefant, Collage 2004, F. Sacco